Psychoanalytische Annahmen

Der Eß- und Trinkakt ist nach psychoanalytischer Auffassung eine Zerstörung der Nahrung mit dem Ziel der oralen Einverleibung und Inbesitznahme. Mit der Nahrungszufuhr erreicht der Lebenstrieb eine Befriedigung. In der biologischen Funktion der Ernährung wirken die beiden Grundtriebe (Lebens- und Todestrieb) miteinander, denn die Nahrung wird vernichtet und zur Selbsterhaltung verzehrt (Bruch, 1973).

Die Nichtbefriedigung oraler Bedürfnisse führt zu einer Fixierung der Entwicklung in dieser Phase, deren Auswirkungen sich im späteren Entwicklungsverlauf in Gier, Futterneid, Sucht oder Depression zeigen. Für gestörtes Eß- und Trinkverhalten werden folglich ungelöste Konflikte in der oralen Phase verantwortlich gemacht (Mills & Cunningham, 1988).

Als Beleg für diese Interpretation wird der Befund gesehen, daß eine Gewichtsabnahme häufig mit depressiven Verstimmungen und Angst einhergeht. Dagegen kann man jedoch die Ergebnisse der Minnesota-Studie anführen, die zeigen, daß auch bei normalgewichtigen, körperlich und psychisch gesunden Männern eine Einschränkung der Nahrungsaufnahme und ein damit verbundener Gewichtsverlust mit depressiven Verstimmungen und Angst einhergeht (Keys et al., 1950).

Hunger wird, neben dem Motiv zur Nahrungsaufnahme, auch im übertragenen Sinn, z.B. als Folge eines Mangels an materieller und emotionaler Zuwendung verstanden.
Nach König (1997) essen Adipöse mehr als Normalgewichtige, da für sie das Essen eine Quelle des Genießens darstellt, und sie sonst über weniger entsprechende Möglichkeiten der Befriedigung verfügen. Essen stellt für sie demnach eine Ersatzbefriedigung dar. Weiterhin eignet sich Essen auch als Emotionsregulierung bei unangenehmen Affekten und Stimmungen. Auch Einsamkeitsgefühle können durch Essen positiv beeinflußt werden.

König (1997) ist weiterhin der Überzeugung, daß Menschen, die viel essen, sich in eine Situation des Gefüttertwerdens durch die Mutter hineinphantasieren.
Essen steht nach Subkowski (1996) oft für den Umgang mit Gefühlen, Impulsen und Wünschen, die sich an die frühe Mutter richten. Es ersetzt gehemmte Antriebe aus dem Bereich der oralen Erfahrung, also Empfindungen von Geborgenheit, Sicherheit, Hautkontakt, orales Neinsagen, aber auch anderer Triebbereiche wie blockierte Autonomiebestrebungen, Rivalitäts- oder Zärtlichkeitsgefühle. Dabei wird nach Subkowski (1996) echte Zufriedenheit über das Essen nicht erreicht.

Die meisten Frauen leiden unter ihrem Dicksein. Nach König (1997) gibt es jedoch auch Frauen, die zwar unter ihrem Dicksein leiden, es aber als positiv empfinden, daß Männer sich nicht für sie interessieren. Hier handele es sich oft um Frauen mit Sexualitätsproblemen. König (1979) geht davon aus, dass das adipöse Aussehen sie vor Männern schütze. Andere Adipöse berichten, daß sie das Fett als einen Schutzwall empfinden (König, 1997).

Schneider-Henn (1988) spekuliert, daß Streßsituationen, wie beispielsweise Trennung einer geliebten Person, für eine vermehrte Eßlust verantwortlich sein können.
Weiterhin sieht sie Essen als eine frauenspezifische Abhängigkeit an. Da Frauen sich abhängig von einer harmonischen Beziehung zu ihren Männern fühlen, wählen sie insgesamt passivere Konfliktlösestrategien. So versuchen Frauen die eigenen Bedürfnisse selbst, beispielsweise durch Essen, zu stillen. Für diese Hypothese spricht nach Meinung der Autorin die beobachtete Eigenschaft der Teilnahmslosigkeit und Antriebsarmut, die zu dem Bild der abhängigen und unselbständigen Frau paßt. Dabei kommt es nach Schneider-Henn (1988) zu einer ausschließlichen Konzentration auf das Essen. Soziale Kontakte werden aufgegeben, und es entwickelt sich ein allgemeines Desinteresse an der Umwelt. Infolgedessen kommt es zu einer zunehmenden seelischen Verarmung.

Bruch (1973) differenziert zwischen schwergewichtigen Menschen ohne abnormales Verhalten und adipösen Patienten mit psychischen Problemen, die sie wiederum in zwei Gruppen unterteilt. Sie unterscheidet hier zwischen der sogenannten Entwicklungsfettsucht und einer reaktiven Fettsucht. Die Entwicklungsfettsucht beginnt schon in der Kindheit. Sie entwickelt sich bei bestimmten konstitutionellen Faktoren und dem Hinzutreten  schwerer emotionaler Störungen. Die reaktive Fettsucht beginnt überwiegend erst im Erwachsenenalter und ist auf ein schweres emotionales Trauma zurückzuführen wie ein drohender oder tatsächlicher Objektverlust. Durch Essen als Ersatzobjekt wird die Depression abgewehrt.

Nach Subkowski (1996) haben sich in der psychoanalytischen Behandlung eßsüchtiger Patienten folgende Gemeinsamkeiten der Psychodynamik herausgestellt: ein tiefsitzendes Unzulänglichkeitsgefühl, eine spezifische Unfähigkeit körperliche Empfindungen zu identifizieren, den eigenen Körper wahrzunehmen und seine Funktionen zu steuern. Eine weitere Eigenschaft Eßsüchtiger ist nach Subkowski (1996), daß die Umwelt vor allem unter dem Aspekt der Versorgung wahrgenommen wird.

Von vielen Autoren, u.a. von Ott (1995, zitiert nach Subkowski, 1996), wird Adipositas als Suchtgeschehen aufgefaßt. Subkowski (1996) überträgt das Modell der Alkoholabhängigkeit von Rost (1987, zitiert nach Subkowski, 1996) auf die Eßsüchte. Dieser unterscheidet verschiedene Strukturebenen der Sucht. Nach Subkowski (1996) finden sich auf der mittleren Strukturebene der Sucht viele eßsüchtige Patienten wieder. Auf diesem mittleren Strukturniveau sind außer der Triebabfuhr und der Spannungsregulation noch weitere Funktionen des Ichs nicht ausreichend entwickelt. Verschiedene Affekte werden über das Suchtmittel reguliert.